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28
Januar
Globale Gerechtigkeit und Ich
von Schlump

„Natürlich bin ich für Gerechtigkeit. Und gegen Armut und Ausbeutung...“
Im Juni wird es wieder soweit sein. Die acht mächtigsten Industriestaaten der Welt treffen sich im deutschen Heiligendamm in Mecklenburg-Vorpommern um über die Welt zu sprechen, ihren Einfluss darin und Strategien festzulegen, wie eine Weltordnung in zehn Jahren aussehen kann und soll. Um Heiligendamm wird ein 12km langer Sicherheitszaun gebaut, damit mögliche Demonstranten die Gespräche der Politiker nicht stören können. Dahinter dürfen sie sich dann versammeln, außer Sichtweite des Tagungsortes und Gerechtigkeit fordern, getrieben von der Sehnsucht nach einer besseren Welt. Und sie werden zurecht Missstände anprangern, Hungertote in Afrika, Strafzölle für Waren aus der dritten Welt, subventionierte Agrarfrüchte, wirtschaftliche Abhängigkeit schwacher Staaten, Umweltzerstörung im Interesse globaler Unternehmen und Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo und anderswo. In ihren Augen sind die mit Hubschraubern gekommenen Politiker innerhalb des Zauns Verbrecher und Egoisten, die Gerechtigkeit und Chancengleichheit mit Füßen treten.
Und was mache ich selbst? Auf welcher Seite stehe ich? Unterstütze ich die idealistischen Forderungen der Weltverbesserer oder nehme ich die egoistische Politik der G8 einfach so hin? Muss ich mir überhaupt darüber Gedanken machen, wenn zwei Extreme um die Gestaltung der Welt kämpfen? Ja, ich muss. Diese Antwort ist deutlich und sie muss es sein. Denn in Heiligendamm geht es um nicht weniger, als um meine eigene Zukunft. Innerhalb des Zauns ebenso, wie davor. Deshalb muss ich mir eine Meinung bilden und mich fragen in welcher Welt ich leben möchte, was ich verantworten kann und was nicht. Ich muss entscheiden ob ich meinen europäischen Wohlstand oder ein Stück mehr Weltgerechtigkeit bevorzuge, ob ich die G8 befürworte oder vor dem Zaun demonstrieren gehe.
Tatsächlich beginnt die Antwort im Alltag und sie findet sich irgendwo auf der Skala zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit. Jeder Mensch trägt ein Bündel eigener Interessen mit sich rum und er wird von ihnen geprägt und gelenkt, beeinflusst und manches Mal herausgefordert. Egoismus bedeutet dann die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen, während sich die Selbstlosigkeit am Anderen und seinen Bedürfnissen orientiert. Egoismus bedeutet, dass ich etwas für mich selbst tue, Selbstlosigkeit, dass ich einen Augenblick lang so tue, als ob es mich selbst gar nicht gäbe.
Im Alltag bin ich unentwegt aufgefordert mich auf dieser Skala der beiden Extreme einzuordnen. Ich kann dem Bettler in der Fußgängerzone ein Brötchen kaufen oder ich lasse es sein. Ich kann Kröten über die Straße tragen, einer Mutter mit Kinderwagen eine Treppe hochhelfen, mich ehrenamtlich engagieren und meinen Freunden Trost spenden, obwohl ich am nächsten Tag eine wichtige Klausur schreibe. Ich kann das alles machen oder eben nicht. Bei jeder Entscheidung ordne ich mich dabei automatisch auf der Skala zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit ein. Das tue ich sogar wenn ich die Mutter mit dem Kinderwagen anlächle, aber so in Gedanken bin, dass ich ihre Hilfsbedürftigkeit gar nicht bemerke und einfach weitergehe. Auch dann ordne ich mich ein, unbewusst, aber ich tue es.
Die Auswirkungen meiner Entscheidungen sind minimal. Wenn ich meine hilfsbereite Seite hervorkehre wird mir danach wahrscheinlich mal mehr, mal weniger Dank entgegengebracht und ich habe für den Rest den Tages ein gutes Gefühl. Mit Weltpolitik hat weder die Mutter mit Kinderwagen, noch die Kröte etwas zu tun. Mein Egoismus oder meine Selbstlosigkeit bleibt auf mich selbst, die Mutter und die Kröte beschränkt.
Aber was mache ich vor dem Supermarktregal, in dem zwei Schokoladen eingeordnet sind? Die erste kostet 65Cent, die zweite 2,20Euro. Der Preisunterschied kommt daher, dass Nummer Zwei fair gehandelt wurde, die Kakaobauern also nicht ausgebeutet wurden. Was mache ich dann? Wenn Gerechtigkeit ein wesentlicher Maßstab in meinem Leben sein soll, dann müsste ich die fair gehandelte Schokolade kaufen, kann ich sie mir nicht leisten, muss ich komplett verzichten. Wenn ich sie mir kaufe belastet das meine Geldbörse. Dank kann ich nicht erwarten, dafür ist Schokoladekaufen im Supermarkt zu anonym. Wo also ordne ich mich ein zwischen Selbstlosigkeit und Egoismus? Was ist mir meine so schnell und leicht geforderte Gerechtigkeit wert?
Was ist mit Kleidung? Mit Schuhen? Was mit Hightechfernsehern und Autos? Orientiere ich mich am Preis oder an meinem Anspruch auf Gerechtigkeit? H&M, Adidas, Lexus und Sony produzieren in Billiglohnländern, in denen Arbeitnehmer wenig Rechte haben und zumindest in europäischen Augen ausgebeutet werden. Will ich das unterstützen um meine eigene Geldbörse zu schonen? Ist es gerecht fremde Menschen in fernen Ländern unter Bedingungen arbeiten zu lassen, unter denen ich nicht mal einen Besen anrühren, sondern schnurstracks zum Bundesverfassungsgericht stolzieren würde? Denn eines ist klar. Die Menschen in China, Bangladesh, Afrika oder Lateinamerika dürfen nicht mehr Lohn und nicht mehr Rechte bekommen, wenn die Europäer nicht bereit sind mehr Geld für diese Waren zu bezahlen. Ich mache die Niedriglohnfabriken ja erst profitabel, denn ich kaufe ihre Waren. Das spricht die Industriemanager nicht frei, aber es betont mein eigenes Stückchen Verantwortung. Das hat plötzlich schon etwas mit Weltpolitik zu tun.
Und welchen Kurs soll Europa fahren? Immer öfter wird gefordert Europa zur Festung auszubauen um den Wohlstand zu sichern, um Macht zu erhalten und um Flüchtlinge, vor allem aus Afrika, an der Einreise zu hindern. Sie flüchten vor Krieg und Hunger, vor Aids und Perspektivlosigkeit. Wie stark muss es mich kümmern, dass europäisch subventionierte Agrarfrüchte afrikanische Märkte zerstören oder das argentinischer Regenwald für Rindersteaks gerodet wird, die in Deutschland gegessen werden? Und trage ich Verantwortung daran, dass in Indien Menschen verdursten und Ernten eingehen, weil Coca Cola für die Getränkeproduktion das Grundwasser anzapft, nur weil ich ein Glas Cola trinke?
Die Antwort ist schwer und ganz sicher liegt die Verantwortung nicht beim Konsumenten allein. Aber jeder Schluck aus einer Flasche Cola, jeder Biss in ein argentinisches Rind, jeder Kauf eines T-Shirts aus Bangladesh gleicht einer Stimme. Meiner Stimme. Meiner Entscheidung, in welcher Welt ich leben möchte. Meiner kleinen Macht, die Welt zu gestalten. Natürlich trage ich Verantwortung. Nicht viel, aber ich trage sie. Ob sie leichter zu tragen ist, nur weil sie so klein ist, sei dahingestellt. Sie ist leichter zu verdrängen, zu vergessen, auch, weil Afrika, Indien und Bangladesh so schrecklich fern sind. Aber Verdrängung befreit nicht von Verantwortung.
Doch warum handelt CocaCola so? Warum kommen die Industriestaaten auf dem G8-Gipfel zusammen? Warum produzieren so viele Firmen in China? Sie tun es nicht aus Bösartigkeit, sondern um ihr Unternehmen profitabel und Staaten an der Macht zu halten. Sie tun es um Gewinn und politischen Einfluss zu maximieren. Sie tun es, damit das Unternehmen nicht untergeht oder sich die Bedingungen für einen Staat nicht verschlechtern. Der europäische Wohlstand basiert irgendwie auch auf der Armut Afrikas und anderer Staaten. Unser Einfluss auf die Weltpolitik ist nur deshalb so groß, weil wir andere Länder kleinhalten. Und unsere Unternehmen gehören deshalb zu den mächtigsten der Welt, weil wir sie politisch unterstützen, durch Subventionen, durch Zölle, durch politischen Einfluss. Es geht uns gut in Europa, das ist der Status quo. Die Manager der Unternehmen wollen ihren Gewinn erhöhen, die Staaten der westlichen Welt ihre Macht halten oder ausdehnen. Deshalb treffen sie sich zum G8-Gipfel. Deshalb produziert H&M in Bangladesh. Weil sie den Status quo in Europa gut finden.
Was sagt mir das? Egoismus gehört zum Menschsein dazu, sie ist ein Teil unserer Überlebensstrategie. Wenn Gerechtigkeit und Chancengleichheit mein Leben leiten sollen, dann muss ich alles dafür tun, die Armut in Afrika zu beenden, den Regenwald beschützen und Coca Cola boykottieren. Dann muss ich meine Verantwortung ernstnehmen. Dann muss ich im Juni demonstrieren gehen, gegen den G8-Gipfel, gegen die Dominanz der Industriestaaten und gegen die Festung Europa. Dann muss ich aber auch einsehen, dass diese Forderung meinem Wohlstand ein Grab schaufelt. Dass die Macht der Europäer sinken wird, dass ausländische Unternehmen voranpreschen werden, dass nicht mehr jeder in Europa ein Auto haben kann, einen Computer, billigen Kaffee, zehn T-Shirts und Digitalkameras für 99Euro. Dann muss ich selbstlos sein, auf ein Stück meines Wohlstandes verzichten. Ich muss in Kauf nehmen, dass die europäische Stimme in der Welt leiser sein wird, dass die Interessen meines Landes eine geringere Stellung haben werden. Ich muss für einen Augenblick vergessen, was für ein gutes und einfaches Leben ich hier führe, ich muss meine privilegierte Stellung aufgeben. Chancengleichheit bedeutet, dass asiatische Staaten besser dastehen könnten. Mehr Wohlstand. Mehr Macht. Und dann bin ich darauf angewiesen, das sie selbstlos sind und die ärmeren und schwächeren Staaten unterstützen. Das wäre selbstlos. Für die Gerechtigkeit. Für die Chancengleichheit. Für mein gutes Gewissen.
Wenn ich bereit dazu bin und eine neue Weltordnung begrüße, dann kann ich vor den Zaun treten, der Heiligendamm abschottet und Gerechtigkeit fordern. Aber dann darf ich keine Cola trinken und kein T-Shirt aus Bangladesh tragen. Und ich sollte es auch vermeiden ein Restaurant zu besuchen, das keinen Fairtradekaffee anbietet.
Die andere Option wäre Egoismus. Dann sind mir die Hungertoten in Afrika egal, ebenso wie der Grundwasserspiegel in Indien, hauptsache ich habe meine Cola. Dann befürworte ich die G8 und hoffe, dass sie ihre Macht in der Welt weiter ausdehnen können. Denn das dient meinem Wohlstand, macht meine Stimme in der Welt lauter, schenkt mir billige Steaks, Hosen und Digitalkameras. Dann stelle ich mich über andere Menschen, vergesse Gerechtigkeit und sehe mich als privilegiert.
Beides sind Extreme und in der Regel liegt die Wahrheit dazwischen. Absoluter Egoismus verfehlt das Ziel ebenso wie blinde Selbstlosigkeit. Gerechtigkeit ist ein wichtiger Wert, aber sie darf nicht zum Dogma werden. Die Geschichte hat Europa zu einer mächtigen Stimme gemacht und uns viel Wohlstand beschert. Der Weg dorthin wird an dieser Stelle ausgeblendet. Wir müssen einen Mittelweg finden zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit. Wir müssen bereit sein die Lebensbedingungen der Menschen in Afrika, Asien und anderswo zu verbessern und dafür selber Einschränkungen hinzunehmen. Dann kostet der Kaffee halt plötzlich doppelt so viel, dann ist das so. Und vielleicht müssen auch die Politiker einsehen, dass andere Staaten auch ein Recht auf eine Stimme in der Welt haben, dass wir die Welt nicht nach unseren Maßstäben gestalten können. Selbstlosigkeit kann heilend sein.
Aber gleichzeitig ist es unser gutes Recht unsere Macht und unseren Wohlstand zu halten und unsere starke Stimme in der Welt zu benutzen. „Jeder Mensch ist sich selbst am nächsten“, sagt ein altes Sprichwort. Das ist nicht populär und ein Ideal ist es auch nicht. Aber es ist realistisch. Man kann nicht verlangen, dass ganz Europa kollektiv auf Wohlstand und Macht verzichtet. Dafür ist uns der Deutsche oder der Franzose einfach näher, als der Afrikaner oder der Asiate. Das ist nicht böse gemeint, es beschreibt nur das Sein des Menschen, seine Art zu denken. Der Mensch ist auch egoistisch und man kann es ihm nicht verbieten.
„Natürlich bin ich für Gerechtigkeit. Und gegen Armut und Ausbeutung...“ Ja das bin ich. Aber nicht um jeden Preis. Ich finde es wichtig, den Wohlstand der Staaten anzugleichen, Hunger und Durst zu vermeiden und Menschen nicht sterben zu lassen, nur weil sie keinen Zugang zu Medikamenten haben. Gepa Kaffee ist teurer, ich kaufe ihn trotzdem. Auch ich bin ein Mensch und ich mag die Welt, in der ich aufgewachsen bin, mag den Wohlstand und die billigen Kleider von H&M. Europa muss selbstlos und egoistisch zugleich sein. Und ich muss und darf es auch. Das ist kein Widerspruch, es ist realistisch. Selbstlosigkeit ja, aber nicht ohne eine eigene Position zu haben und dafür einzutreten. Egoismus ja, aber nicht ohne die anderen zu vergessen und schon gar nicht immer nur auf ihre Kosten. Irgendwo dazwischen liegt Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit der Welt und mir selbst gegenüber.

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